Er war da, der langerwartete Tag. Ich hoffe nur, Frau Schmidt hat in Magdeburg gerade genug Handtücher bereitliegen, bei all den Schauern, die ihr gerade über den Rücken laufen. Heute ging es in das Englischlern-Kindercamp. Zu meiner ?Freude? sollte es schon um sieben Uhr losgehen, so dass wir früh aufstehen mussten und ich mich auf Orsolyas Todesschleuder schwang, um den Bahnhof zu erreichen. Wie vermisse ich mein altes Fahrrad, aber irgendwie – und ich betone das ?Irgendwie? – erreichten wir den Bahnhof sicher, wo schon eine große Gruppe an Ausländern und über hundert Kinder bereit standen. Wie sich herausstellte, waren die Ausländer fast ausschließlich französische Praktikanten, welche gerade in Sendai verweilen und für die Stadt einen Monat lang arbeiten. Eine ihrer Aufgaben war nun der Besuch des Camps. Die meisten Gesichter des MafuMafu erschienen mir unbekannt, desto größer war aber die Freude, als ich Yusuke, meinen Lieblingskoch aus dem MafuMafu-Cafe, erspähte. Dieser erkannte mich auch sofort und es kam zu einem umarmungsreichen Wiedersehen. Er betonte dabei immer wieder, dass er einfach nicht glauben kann, dass ich wieder da bin. Kurzerhand wurde deshalb auch klar gemacht, dass wir uns nächste Woche mal so treffen müssen und zusammen abhängen werden.
Es ging auf jeden Fall los. Dank meiner Freundschaft zu einem der Hauptleiter, bekam ich gleich einen Platz in seinem Team, den ich dann aber leider doch kurzerhand wegen einer Umstrukturierung räumen musste. Das war mir aber auch ganz recht, orange stand mir als Erkennungsleibchen doch nicht so gut, wie ich mir das vorgestellt hatte. Kurzerhand kam ich in das erste Team und damit in das weiße Team. Kam mir natürlich sehr gelegen, denn das weiß-schwarze Leibchen passte perfekt zu meinem weißen Hemd, nur an der Größe muss man noch arbeiten. Beschwerten sich einige Kinder, dass sie ihre Hemden als Röcke tragen könnten, so konnte ich mit meinem bauchfrei durch die Stadt wandern. Gut, wir sind in Japan, da erwarte ich gar nicht, dass auf derartige Details geachtet wird.
Wir wurden auf jeden Fall auf vier Busse aufgeteilt und los ging es in das Camp. Mein Team bestand aus vier männlichen Betreuern und vierzehn Kindern, wovon der große Teil Jungen waren. Der Altersdurchschnitt lag bei etwa neun Jahren, das war somit die jüngste Gruppe. Unser Hauptproblem, wie sich später herausstellen sollte, war die schlechte Aufteilung der Betreuer. Unser Anführer war ein Japaner, welcher zwar Englisch lehrt, aber leider nicht so gut das gesprochene Englisch versteht. Die zwei weiteren Betreuer waren Franzosen, von dem einer Englisch sprechen konnte und kein Japanisch und einer etwas Japanisch und kein Englisch. Dafür reichte sein Japanisch aber trotzdem kaum an meines heran, was etwas heißen soll. Besonders für ein Englischcamp erscheint eine derartige Sprachverteilung gewöhnungsbedürftig, aber wer bin ich, um das zu beurteilen. Weiterhin fehlte uns eindeutig die pädagogische Ader, wie sie nur Frauen offenbar entwickeln können.
Nach einigen Späßen im Bus, unter anderem dass der arme Deutsche beim Aufstehen und Vorstellen seinen Schädel an die Busdecke gehauen hatte, erreichten wir nach etwa einer Stunde die Berge von Zao. Ohne Pause wurden die Kinder geschnappt und in einen großen Raum verfrachtet, wo sie drei Stunden unterrichtet wurden. Von Unterrichten aber kann nicht wirklich die Rede sein. Es zeigte sich eines der Hauptprobleme der Veranstaltung – das Alter. Das ganze Camp stand auch unter dem Motto, den Opfern der Erdbeben etwas Freude zu bereiten, dementsprechend weit gestreut war der Altersdurchschnitt. Mit unterschiedlichem Alter sind die Kinder auch unterschiedlich aufnahmefähig und unterschiedlich weit mit ihren Englischkenntnissen. Die eine Gruppe langweilte sich also bei den drei Sätzen, die in den drei Stunden unterrichtet wurden, die andere fand die Seilbahn vor dem Haus viel spannender und hatte Probleme, drei Stunden auf dem Stuhl zu sitzen. Ein angepasster und auch durch Spiel und Spaß anstelle von Frontalunterricht vorgenommener Unterricht wäre wohl meiner Meinung nach geeigneter gewesen. Zudem gab es in diesen drei Stunden nichts zu trinken, sondern es wurde erwartet, dass die Kleinen ihre Wasserflaschen benutzen. Augenscheinlich klappte das nicht und schon nach zehn Minuten hatten wir die Ersten, die mit roten Augen und leeren Flaschen dastanden. Es herrschte also etwas Chaos, was insoweit ärgerlich war, wenn man sah, dass die Kids wirklich etwas lernen wollten, halt nur anders aufbereitet.
Nach dieser Lehrstunde ging es rüber in ein anderes Gebäude, wo die Kinder Curry kochen sollten. Nach einigen organisatorischen Problemen klappte das auch gut, auch wenn unsere Gruppe lieber spielte. Zum Glück opferte sich aber Risa, eine unserer Kleinen und kochte fast im Alleingang mit unserer Hilfe. Dafür lernten sich die Kinder jetzt endlich kennen. Eine weitere Eigenschaft unserer Gruppe wurde auch gleich bei der Essenaufteilung offensichtlich: der Zusammenhalt, der sich entwickelt hatte. Es galt, die Teller für das Curry aus drei Reiskochern zu befüllen. Jin beschloss kurzerhand, die Teller von allen Gruppenmitgliedern zu füllen. Da wir als Gruppe 1 zuerst dran waren und die Reiskocher noch voll waren, dachten wir uns nichts dabei. Als der erste Reiskocher dann aber schon fast zur Hälfte geleert war, musste ich eingreifen und eine kleine Rationierung vornehmen. Die Kinder mit den vollen Tellern störte das nicht weiter, wir waren die einzige Gruppe mit geleerten Tellern und geleertem Currytopf. Einige Japaner haben wirklich schwarze Löcher im Magen, wo man sich fragt, wie man soviel essen kann. Nach einigen weiteren Lernversuchen wurden die Kinder nach draußen verfrachtet und es wurde ein Fangspiel veranstaltet. Die Betreuer sollten einen Hang hochlaufen und die Kinder ihnen hinterher, um sie zu fangen. Dabei sollten sie auf Englisch einen Stopp erbitten. Das Englische wurde nach der ersten Runde aber weggelassen. Nach der zweiten Runde hatten wir die ersten verletzten Betreuer, da der Boden so schlecht war, dass man leicht umknickte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich eigentlich geplant, mich in der dritten Runde rauszuhalten und lieber Krankenschwester zu spielen. Die Rechnung habe ich aber ohne Jin gemacht, der, als ich saß, auf meinen Rücken gesprungen war. Schon vorher wurde ich durch meine Größe öfter angesprochen, ob ich das Kind nicht mal hochheben kann, hatte mich aber immer geweigert. Diesmal gab ich nach, da ich ihn eh nicht mehr los wurde. Dies sollte ein schwerer Fehler sein. Ich wurde kurzerhand als Pferd missbraucht und jagte den Betreuern hinterher, wofür Jin am Ende auch den ersten Platz in der Wertung bekam. Was macht man nicht alles fürs Team?
Im Anschluss an das Rennen folgte ein Wassermelonenöffnen, welches in Japan traditionell mit verbundenen Augen und einem Holzstock geschieht. Die Kinder hatten ihren Spaß, auch wenn wir Ausländer jetzt nur noch gefragt wurden, ob wir sie mal hochheben. Da die meisten Sachen, die wir machten, eh nicht wirklich kindergerecht waren, gaben wir nach und wir drei Ausländer spielten immer mal zwischendurch mit den Kindern. Dabei lernten sie auch gleich etwas Englisch, da wir ihnen immer mal dabei neue Begriffe eintrichterten. Der Abschluss des Abends sollte ein Grillen werden. Unsere Kids aus Team 1 schafften es natürlich wieder als erstes, alles Fleisch zu verdrücken, so dass wir Betreuer kaum etwas abbekamen. Da Fleisch eh nichts für mich ist, spannte mich Yusuke als Koch ein und ich war für die Yakisoba zuständig.
Die wurden auch super lecker. Nur, wieso muss ich immer kochen, wenn ich mit dem MafuMafu zu tun habe? Das angedachte Lagerfeuer fiel dagegen dem Wind zum Opfer, der das Holz vom Feuerplatz schmiss, welches fast noch die Kinder traf. Da sich kein anderer traute, war es dann meine Aufgabe, die Feuerbeschleuniger vom Lagerfeuer zu entfernen. Die angedachte Nachtwanderung endete dagegen mit einem Fußbruch eines Franzosen, welcher an der falschen Stelle auftrat und sich dabei den Bruch zuzog.
Während wir die Kinder hüteten, was schwerer war, als ein Sack Flöhe zu hüten, wurden vier Franzosen aus uns unbekannten Gründen auch noch gefeuert und auf einmal hatten wir ein Problem mit der Zimmerbelegung. Geschlagene 60 Minuten dauerte diese, wobei uns Kinder zugeteilt wurden, welche wir nicht einmal kannten. Zudem war mein Zimmer zu klein für die 15 angedachten Personen, welche in ihm schlafen sollten. Der Einwand der Japaner, die Kinder könnten zusammen auf einem Futon schlafen, wurde dadurch entkräftet, dass kein Japaner bereit stand, diesen Plan den Kindern zu erklären. Da sie nicht auf uns hörten, wurde aus diesen Plänen nichts. Das war auch gar nicht so tragisch, da die zwei anderen Franzosen auf einmal ohne Vorwarnung aus meinem Zimmer verschwanden und wo anders übernachteten. So brach in meinem Zimmer ein Krieg aus und alle Kinder prügelten sich – und ich dazwischen. Dank meiner überlegenen Körpergröße konnte ich den Frieden erzwingen, doch für diese Tat wurde ich von den Kindern zum Supersayajin dritter Stufe ernannt. Wie mir Yusuke später erklärte, handelt es sich bei diesem um die stärkste Entwicklung eines Kriegers in einem bekannten Anime, welche dazu noch langes blondes Haar hat.
Bei der Abschlussbesprechung des Tages kam noch heraus, dass meine gesamten Handlungen nicht unbemerkt blieben. So hatten alle Japaner ein weinendes Kind alleine im Aufenthaltsraum gelassen, welches Schnappatmung hatte und versuchte, mit seiner Mutter zu telefonieren. Dabei bekam es kein Wort heraus. Als ich das sah, habe ich ihm mit meinem begrenzten Japanisch gut zugesprochen, die Nase geputzt und ihn vom Grillen überzeugt. Zudem hab ich ihm einige lustige Szenen aus dem ersten Asterix Livefilm gezeigt, welche er auch in Deutsch verstand. Wenn Obelix Römer verprügelt, ist das halt doch international. Das Grillen hat ihm dann so viel Spaß gemacht, dass er danach nie wieder geweint hat.
Als ich in der Nacht müde in mein Zimmer zurückkam, kam ich erst gar nicht herein, da die Kinder abgeschlossen hatten. Meine Stimme überzeugte sie aber, die Tür zu öffnen. Das Schlafen wurde noch interessant, da die Futons wie eine Liegewiese genutzt wurden und alle irgendwo schliefen. So nahm ich zwischen den Füßen eines Kindes und dem Rucksack eines anderen Kindes Platz. Diesen Rucksack hatte allerdings ein Kind noch auf dem Rücken, als es eingeschlafen war. Irgendwann in der Nacht befreite es sich dann von der Last und ich hatte einen Rucksack auf dem Gesicht, der ohne Rücksicht auf Verluste gegen die nächste Wand weitergeschickt wurde. Das Versprechen besagte vorher auf jeden Fall, am zweiten Tag seien die Kinder so geschafft, dass sie nichts mehr machen. Ich hab da so meine Zweifel, aber ich lasse mich ja gerne vom Gegenteil überzeugen!