Wir schreiben die 341. Minute und der Schiri pfeift das Auswärtsspiel frühzeitig ab. Frühzeitig genug, um das Chaos, was in der anschließenden Zeit in Japan herrscht, genau um 18 Stunden zu verpassen. Der Trainer ist mit dem Abpfiff und dem Wunsch der Spieler, schnell nach Hause zu kommen, aber bei weitem noch nicht zufrieden und beordert alle noch einmal zur ausführlichen Nachbesprechung. Hier ist er nun, der lange versprochene Abschlussbericht über 341 Tage in Japan:
Angespannte Nerven, entnervte Deutsche, aber auch viel Spaß und Freunde fürs Leben sollten meine Zeit in Japan prägen. Erst einmal aber zu den unschönen Themen, die aktuelle Situation. Bis auf die Familie, die mich freundlicherweise im Fußballstadion in ihrer Mitte aufgenommen hatte, habe ich mittlerweile von allen Freunden aus Japan gehört. Mayumi geht es genauso wie Nobu, Rieko und den Leuten aus meinem Büro gut. Die Ausländer auf der anderen Seite haben zum Großteil das Land verlassen und viele werden wohl nicht wieder kommen, ein großer Verlust für sie. Ein großer Verlust? Viele Ausländer planen nur einen Halbjahresaufenthalt in Japan. Das ist eine Zeit, die nie ausreicht, um die Erfahrungen die dieses Land bietet alle mitzunehmen. Aus diesem Grund hatten viele den Aufenthalt auch verlängert, nur um jetzt doch notgedrungen abbrechen zu müssen. Damit verpassen sie leider viel zu viel von diesem wunderschönen Land.
Wir schreiben den 4.4.2010. Ein junger Deutscher, bewaffnet mit FCM-Fahne und genug Sachen für ein Jahr Auslandsaufenthalt steht bereit auf dem Frankfurter Flughafen, bereit sein Heimatland solange zu verlassen, wie er es noch nie gemacht hatte. Bis es zu diesem Punkt kommen konnte, war es ein sehr langer Weg. Viele Hindernisse, zum Beispiel die gesamte Bewerbung, mussten aus dem Weg geräumt werden, nur um viel zu kurzfristig die Zusage für den Aufenthalt zu bekommen. Fahren oder nicht fahren, das war jetzt die Frage. Japan ist weit weg und Leute, die einen verstehen, sind auch nicht gerade dicht gesät in Japan. Einige Beratungsgespräche später – ich muss in diesem Zusammenhang meinen Eltern und besonders Daniel, der trotz Diplomarbeit immer Zeit hatte, danken – stand fest, warum sollte ich eigentlich nicht fliegen? Freunde finden ist immer möglich, das Japanisch wird vor Ort schon besser und im Notfall gibt es immer Wege, die Heimreise anzutreten. Endlich, nach fast drei Jahren Vorbereitung, konnte es also losgehen, in eines der modernsten, aber auf der anderen Seite auch traditionellsten Länder der Welt.
Es kam, wie es kommen musste und das Glück war mir hold. Ich bekam die beste Wohnung, die man als ausländischer Student bekommen kann und die FCM-Fahne an der Wand macht den Raum gleich wohnlich. Sendai im Regen und die verzweifelte Suche nach dem Wohnheim machte zwar nicht den besten ersten Eindruck auf mich. Eine Stadt mit eigenem Flughafen und trotzdem noch ländlichen Regionen, die man aus dem Zug sehen konnte, machten aber doch schon Eindruck. Aber auch in der restlichen Zeit sollte mir das Glück hold sein. Trotz oder gerade wegen meiner Verspätung am ersten Tag zur Anmeldung mit Group Mori kam ich mit Amanda und Orsolya ins Gespräch, wobei letztere Bekanntschaft eine meiner besten Freundinnen während des gesamten Aufenthalts werden sollte. Natürlich hatte sie einige Ticks, die mich zur Verzweiflung brachten, wie der berühmte Gulaschkocheinsatz, zu dem sie sich anmeldete und mich schuften lies. Trotzdem war sie immer für mich erreichbar und hatte immer ein offenes Ohr für meine Probleme. Auch echte Probleme, wie mein fortlaufender Privatkrieg mit der Verwaltung der Fakultät, hatten ihre guten Seiten. Zwar verschreckte ich viele meiner Mitstudenten durch meinen ersten alleinigen Auftritt im Büro, trotzdem gewann ich mit Kaori dadurch eine perfekte Tutorin, die immer bereit stand, um mir mit meinen Problemen zu helfen. Besonders, da sie sich wirklich kümmerte und dazu auch noch gut aussah, war sie über das Jahr der Grund des Neids vieler ausländischer Mitstudenten. Aber auch ansonsten entwickelte sich vieles zum Guten. Die wenigen Deutschen hielten zusammen und standen immer zur Verfügung, wenn ich mit meinem genialsten Einkauf, meinem unzerstörbaren Fahrrad, mal wieder irgendwo in der Pampa verloren war und eine Wegbeschreibung anfordern musste. Aber auch die Japaner fanden Gefallen an dem etwas größeren Deutschen, so dass es mir nie an Gesprächspartnern fehlte. Besonders Shimizu und Mayumi sind dabei zu nennen. Ich hoffe, dass Shimizu trotz der Vorkommnisse im Sommer in Deutschland vorbeischaut.
Alles lief das erste halbe Jahr also so ziemlich perfekt, besonders nachdem ich das MafuMafu entdeckte und dank dieser Bekanntschaft noch weiter in die japanische Kultur eintauchen konnte. Alles lief perfekt? Nein, natürlich nicht, ich machte garantiert auch genug Fehler. Und ich fragte mich später oft genug, wieso ich dieser oder jener Beschäftigung nicht schon eher nachgegangen bin oder wieso ich so gehandelt habe, wie ich gehandelt habe. Wieso bin ich nicht noch mehr gereist? Weshalb habe ich nicht noch viel mehr Fußballspiele gesehen? Alles Fragen, die ich mir des öfteren stellte, die aber alle einen Lernprozess darstellten. Wer erwartet, dass er alles richtig macht, der ist einfach unrealistisch. Und viel zu oft hat sich ergeben, wenn sich eine Tür schloss, dass sich eine andere öffnete. So war die Woche, in der meine Eltern sich zuerst in Sendai zeigen sollten, im Endeffekt die Woche, in der mich mein Büro endgültig als fester Bestandteil aufnahm. Oft genug ergab es sich auch, dass ich eine Veranstaltung schwänzte, nur um interessante Personen oder Orte innerhalb von Sendai zu finden. Meiner Meinung nach kann man auf so einer Reise gar nichts falsch machen. Natürlich kann man immer etwas anders machen, solange man aber mit dem Endergebnis zufrieden ist, hat doch alles den richtigen Weg genommen.
Nun heißt es aber, jeder Auslandsaufenthalt gliedert sich in drei Phasen. Die erste ist das Hoch in einem unbekannten Land zu sein und sich wirklich in das Land zu verlieben. Die folgende Phase ist das absolute Tief. Nach gewisser Zeit hat man genug vom Land, ist durch die Sitten genervt und wünscht sich nur die Rückkehr. So schlimm wurde es bei mir zum Glück nie, trotzdem hatte ich auch solch ein Tief, wo mich eine Rückkehr nicht so sehr gestört hätte. Der Sommer hatte Japan erfasst. Vielen Touren ans Meer und Spaß mit Freunden, folgte die große Ernüchterung. Von dem gesammelten Freundeskreis verabschiedeten sich 70 Prozent Richtung Heimat, die anderen 30 Prozent befanden sich im Urlaub und reisten mit ihren Freunden. Gepaart mit einer Ansammlung von Technikdefekten, die mir zwei Laptops zerstörten, dem dazugehörigen Internetverlust und den dadurch entstehenden fehlenden Kontakten in die Heimat und noch einige seltsamen kleine medizinischen Probleme, die von den japanischen Ärzten seltsam behandelt wurden, das kann schon deprimieren. Ein zeitweiliges Hoch kam zwar mit dem Besuch meiner Freunde und besonders die Fahrt nach Hachinohe wird wohl noch eine lange Zeit eine meiner Lieblingsanekdoten sein, doch um so seltsamer war der Abschied. Ich hasse Abschiede und bei ausländischen Freunden weiß mein leider auch, dass der Abschied entweder für lange oder für immer sein wird. Diese Phase war auf jeden Fall geprägt durch ein seltsames Gefühl. Auf der anderen Seite führte sie aber dazu, dass ich das darauf Folgende mehr genießen sollte und damit war sie ein notwendiges Übel.
Dieser Tiefphase folgte aber eine ansteigende Formkurve nach. Meine Eltern schafften es nach Startschwierigkeiten doch noch ins Land und auch die nachfolgenden Ausländer waren o.k.. Wirklich die Stimmung gehoben haben aber zwei Leute: Shimizu, der mich immer mehr in das Büroleben einband und Rieko. Rieko hatte ich schon weit vorher kennengelernt, widrige Umstände sorgten aber dafür, dass ich erst jetzt herausfand, dass sie in meinem Büro saß. Sie sollte meine Kontaktperson und beste Freundin im zweiten Halbjahr werden und der Grund, warum ich anfing, Japan mehr als je zuvor zu genießen. Natürlich waren aber auch zum Beispiel die Touren mit Melanie, die immer Sachen vorschlug, die sonst niemand meiner Freunde gemacht hätte, immer wieder absolute Highlights. Das zweite Halbjahr sollte so noch besser werden als das erste Halbjahr.
Soviel zu einem kleinen Abriss über ein Jahr Japan aus emotionaler Sicht. Wie verlief das Jahr aber sonst? Gehen einem die Japaner mit der Zeit wirklich mit ihrer übertriebenen Höflichkeit auf die Nerven, hat mir das Jahr Uni-technisch etwas gebracht? Diese und andere Fragen möchte ich im Folgenden beantworten. Mein größtes Problem vor meiner Abreise war wohl die Feststellung, dass die Geschichte der Uni mich nicht aufnehmen wollte. Wie sollte ich studieren, wenn ich bei den Germanisten herumsitze? Diese Problematik verfolgte mich wohl noch das gesamte Jahr, insbesondere nachdem die Geschichte mir sogar den Zutritt zu ihren Seminaren verwehren wollte. Trotz allem hat es sich aber gelohnt, vermutlich sogar noch mehr, als wenn ich in der Geschichte gesessen hätte. Menschen, die die eigene Sprache ein wenig verstehen, erleichtern das Lernen ungemein und einiges Fachliche, aber insbesondere viele Ideen und Erkenntnisse über den Unialltag und die Gesellschaftsstrukturen Japans konnte ich durch meine Zeit in der Germanistik der Tohoku Uni mitnehmen. Da mein Hauptforschungsthema die Moderne darstellt, ist dies ein unverzichtbares Material. Genug Quellen und Materialien für mehrere Arbeiten über das Land habe ich auch gewonnen, so dass mir eigentlich nur die Beurteilung bleibt, dass es natürlich ein noch effektiveres Jahr hätte sein können, aber es sich trotz allem auch aus fachlicher Sicht gelohnt hat. Aber auch ansonsten gehöre ich wohl zu den Menschen, die mit der japanischen Lebensweise fast mehr anfangen können, als mit der deutschen. Die Höflichkeit und auch Herzlichkeit der Menschen ist einfach beachtlich. Natürlich gibt es so etwas auch in Deutschland und in Europa, in Japan war es aber noch viel stärker wahrzunehmen. Überdrüssig könnte ich diesen Charaktereigenschaften wohl nie werden, trotzdem verstehe ich komplett die Probleme, die andere mit der Kultur haben. Nie kann man sagen, was andere denken, keine leichte Situation. Außerdem sind die Japaner nicht von sich aus offen und herzlich, man muss sie schon davon überzeugen. Aus diesem Grund kann ich nur allen Japanreisenden in der Zukunft empfehlen, bewaffnet euch mit Almondnüssen, die sind in großer Anzahl in der Verpackung, geht zu einer öffentlichen Veranstaltung und bietet sie euren Nachbarn an. Ich verspreche, für mich hat es sich immer gelohnt und nette Gespräche ergeben.
Das soll es fürs Erste mit meinem kleinen Überblick über ein verrücktes, aber wunderschönes Jahr in Japan sein. Ich hatte großen Spaß und würde es zu jeder Zeit wieder tun. Ich könnte mir sogar vorstellen, für eine Weile in Japan zu leben, aber das ist ein Punkt für die weit entfernte Zukunft. Bis dahin danke ich allen Lesern und insbesondere den Kommentatoren, die meine meist viel zu langen geistigen Ergüsse ertragen haben und mich auf diesen 341 Tagen begleitet haben. Ich habe mich über jeden Kommentar und jede Meldung aus der Heimat gefreut, auch wenn ich aus zeitlichen Gründen nicht immer auf alle Kommentare antworten konnte. Insbesondere auch noch mal einen Dank an meine Eltern, die mir besonders in meiner PC-losen Zeit, das Veröffentlichen meiner Einträge erst ermöglicht haben und natürlich noch einmal allen Stammkommentatoren. Ich hoffe ihr hattet alle etwas Spaß, mir auf meinen Abenteuern zu folgen und ich bedanke mich noch einmal ganz herzlich für die Aufmerksamkeit aller.
?????????????
2 Kommentare
Hallo Reik, danke für das umfangreiche Resümee deines Japan-
Aufenthaltes. Es hat Spaß gemacht, noch einmal alles Revue passieren
zu lassen. Für die kommende Zeit in Göttingen wünscht dir viel Erfolg
deine Oma Brigitte.
Tolle Zusammenfassung Deines Jahres in Japan!!!
Viel Erfolg weiterhin in Göttingen und Tschüß bis zum nächsten
Heim(oder Auswärts?)spiel unseres 1.FCM…