Wir schreiben das Jahr 1986 – ein Jahr der schrecklichen Katastrophen. Tschernobyl stellt das schrecklichste Atomunglück seit Hiroshima und Nagasaki dar, die Challenger bricht auseinander, angehende Blogschreiber erblicken das Licht der Welt und der FCM erreicht nur Platz vier in der Liga. Im beschaulichen Sendai im fernen Japan hat man sich zu dieser Zeit mit ganz anderen Sorgen herumzuschlagen. Es ist Dezember und die Bäume verlieren ihre Blätter, die Straßen sind grau und die Stimmung in der Stadt ist auf einem Tiefpunkt. Was soll man also machen? Einige Einwohner der Stadt entschieden, das Problem auf ihre Art zu lösen und bildeten eine Freiwilligengruppe. Man entschied, die Straßen lebhafter zu gestalten, indem man Bäume schmückt und beleuchtet. Überall in der Stadt erstrahlten einzelne Bäume und in kurzer Zeit gewann diese Idee immer mehr Anhänger. Aus der Freiwilligengruppe wurde eine ganze Bewegung, der sich schnell die ganze Stadt anschloss. Der Festzug des Sternenlichtes, Sendai Pageant of Starlight, entstand. Bis heute hat diese Tradition nicht an Bedeutung verloren und die Stadt Sendai und ihre Bewohner geben Millionen aus, um die Stadt zu gestalten. Durch diese Bemühungen ist das Festival ein Höhepunkt der Weihnachtszeit in Japan geworden und immer mehr Japaner pilgern nach Sendai, um das Schauspiel zu betrachten. Natürlich gelingt es nicht, die ganze Stadt innerhalb eines Tages in den gewünschten Zustand zu versetzen und deshalb wird schon seit Tagen nachts in der Stadt gearbeitet und der Schmuck befestigt. Heute war es dann so weit und der erste Teil der Stadt konnte erstrahlen. In dunkelblau erstrahlt so Ichibancho, die Haupteinkaufsstraße Sendais und lädt zum verweilen ein. Auch die Geschäfte lassen sich nicht lumpen und beteiligen sich eifrig an den Vorbereitungen. So hat Fujizaki, das größte und teuerste Kaufhaus der Stadt, kurzerhand den Haupteingang verschlossen und hinter den Schiebetüren eine Lichtshow aufgebaut. Richtig losgehen wird das Festival zwar erst am 12. Dezember, aber schon jetzt bekommt man (nicht unbedingt zu meiner Freude) schon ein starkes Gefühl der Weihnachtszeit. Das Wetter passt zwar überhaupt nicht zu Weihnachten, aber was will man machen.
Als alter Weihnachtsmuffel war das Erkunden der Innenstadt deshalb auch eine reine Qual. Aber was will man machen, wenn man noch einige Besorgungen erledigen muss, eh die neue Woche anfängt. Ich habe absolut nichts gegen das Weihnachtsfest, aber derartig übertreiben im November muss man es doch wahrlich nicht, besonders wenn man das Fest an sich eigentlich nicht feiert. Wenigstens sieht die blaue Beleuchtung von Ichibancho ziemlich gut aus, besonders im Mix mit dem sonst verarbeiteten weiß. Aber auf die teilweise abgespielte Musik hätte ich gerne verzichten können. Auf dem Weg zum nächsten Laden auf meiner Liste stolperte ich dann per Zufall über meinen alten Kumpel Tetsu. Tetsu, der eine Weile in Deutschland gelebt hat und beachtlich unsere Sprache beherrscht, berichtete mir gleich, dass er am Dienstag eine Deutscharbeit zu schreiben hat, die viel zu hart ist. Kein Problem, kurzerhand zogen wir uns in ein Cafe zurück und ich spielte für zwei Stunden den Deutschlehrer. Es ist schon seltsam, dass Japaner für so etwas nur auswendig lernen. Wie bei dem Toefel Test, dem großen Englischtest, gibt es vorgefertigte Bücher mit allen Fragen, die bei dem Test vorkommen können. Japaner lernen diese Sachen einfach auswendig und bestehen dann die Tests. Kein Wunder, dass sie sprachlich dann trotzdem noch ziemlich schwach auf der Brust sind. Aus diesem Grund versuchte ich alles, um Tetsu die Lösungen verständlich zu machen, so dass er die Zusammenhänge versteht. Gar keine leichte Aufgabe, denn die Japaner geben den Studenten wirklich fragwürdige Texte an die Hand. Ich wüsste nicht, wozu ein Japaner wirklich die Lebensgeschichte der Chanel Gründerin lesen und verstehen können muss. Sobald es anfing, um die Behandlung von Schnitten und Modestilen zu gehen, schwamm ich selber ziemlich, denn welcher normale Mensch verwendet schon die ganzen Fachbegriffe. Von den Testteilnehmern wird so etwas aber erwartet. Hoffentlich hilft meine Vorbereitung ihm ein wenig, um durch den Test zu kommen. Anschließend ging es noch etwas weiter durch die Stadt, wobei ein Buchladen mich besonders amüsierte. Normalerweise nimmt dieser Bock Off für jedes englischsprachige Geschichtsbuch wenigstens 5 Euro, egal wie dünn oder in was für einem schlechten Zustand es ist. Ein Buch im besten Zustand über die japanischen Kriegsverbrechen in China dagegen, wurde als einziges für einen Euro rausgeworfen. Wer will so etwas in Japan schon lesen? Ich natürlich und schon wechselte es den Besitzer. Im Bock Off spürte mich dann auch Orsolya auf, die gerade Großeinkauf für den Winterheimflug machte. Viele ihrer Freunde wollen irgendwelche Mangas haben, so dass sie diesen Großeinkauf machen mussten. Allgemein ist es überraschend, wie viele Leute eigentlich mal schnell nach Hause fliegen, selbst wenn sie dann nur noch vier Monate hier sind. Es werden wohl etwa ¾ der ausländischen Studenten Weihnachten und Silvester in der Heimat verbringen und es wird hier ziemlich ruhig werden. Das ist aber nicht mein Problem, da wir zurückbleibenden uns schon gut beschäftigen werden und ich eventuell auch im Winter noch einmal eine Kurzreise durch Japan antreten möchte. Ob das was wird, muss ich aber noch einmal sehen. Wenigstens musste ich so nicht alleine nach Hause gehen und wir machten uns gemeinsam auf den Rückweg.