Ja, sie lebt noch! Nach über dreimonatiger Abwesenheit ist sie wieder aufgetaucht, meine Tutorin Kaori. Shimizu hatte mir zwar versichert, dass er gehört hat, dass sie noch existiert, aber aufgetaucht ist sie in der ganzen Zeit kein einziges Mal. Und ich hätte es mitbekommen müssen, schließlich bin ich die meiste Zeit des Tages im Büro. Aber gut, zugegebenermaßen schreibt sie gerade ihre Bachelorarbeit und ist dadurch ziemlich eingebunden und als Tutorin benötige ich ihre Dienste auch ziemlich selten, denn bekannterweise habe ich zwei Leute gefunden, die diesen Job viel effektiver und dazu noch hundertprozentig freiwillig machen – Shimizu und Rieko. Wegen mir ist sie aber eigentlich auch nicht wirklich wieder aufgetaucht, sondern mehr wegen eines Vortrags über ihre Bachelorarbeit, aber wenigstens konnte ich mich ein wenig mit ihr unterhalten.
Bevor wir uns aber unterhalten konnten, kam für mich erst einmal die große Überraschung. Ich wollte ins Büro gehen und zwanzig Augenpaare starrten mich aus dem komplett überfüllten Büro an. Das war der perfekte Zeitpunkt für einen strategischen Rückzug. Woher konnte ich auch ahnen, das die allwöchentliche Vortragsreihe dieses Mal im Büro vorgenommen wird. Natürlich hätte ich zuhören können, aber wieso sollte ich. Das Büro war komplett überfüllt und deutsche Literatur ist nicht gerade das Nummer eins Thema auf meiner Interessenliste, besonders wenn es fünf Referate auf Japanisch über das Thema gibt. In solchen Situationen ist dann ein Rückzug doch angebrachter, ich brauche ja zum Glück das Büro nicht, um meine Forschungen voran zu treiben. Zum Glück kenne ich eine sehr nette Dame, die nur wenige Meter weiter ein eigenes Magisterbüro hat und freundlich genug ist, einem armen Deutschen Asyl zu bieten. Kurzerhand ging es zu Rieko. Als Bezahlung durfte ich einige Texte für sie übersetzen, aber das ist zum Glück das kleinste Problem für mich. Ein wenig Smalltalk und die Forschungen konnten endlich beginnen. Interessant war auf jedem Fall bei dem Smalltalk, dass in Japan die erhöhte Terrorgefahrenstufe in Deutschland ein Thema ist. Normalerweise ist Japan an Neuigkeiten aus dem Ausland interessiert wie an der sprichwörtlichen Wasserstandsmeldung vom Nil. Europa ist zwar noch interessanter als die eigenen Nachbarländer. Diese Länder werden nur mit Schlagzeilen bedacht, wenn bedeutende Dinge gegen Japan geschehen, wie z.B. ein Atombombentest. Dass aber eine einfache Warnung wegen erhöhter Terrorgefahr das japanische Festland erreicht, ist schon ziemlich selten und absolut atypisch. Immerhin ist das kollektive Desinteresse an außerjapanischen Problemen seit Ende des zweiten Weltkrieges immer weiter gepflegt worden. Auf jeden Fall durfte ich deshalb heute mehreren Leuten Fragen über die aktuelle Situation in Deutschland beantworten.
So ein Büro ist aber wirklich eine schöne Sache und fehlt uns in Deutschland wirklich. Wir haben ja schon keinen normalen Treffpunkt für alle Studenten der Studienrichtung, aber so ein Studienzimmer nur für das Schreiben von Arbeiten wäre schon eine anständige Sache. Das von mir letzte Woche erbeutete Buch über das Japanisch-Deutsche Verhältnis in der Nachkriegszeit erweist sich auf jeden Fall immer mehr als Goldgrube. Ein derartiges Werk über die Beziehungen und eigenständigen Entwicklungen hätte ich mir schon viel früher gewünscht, aber ich will mich ja nicht beschweren, lieber spät als nie. So vergingen die Stunden und um 18.30 Uhr rief endlich Shimizu an – die Referatsreihe war beendet. Endlich konnte ich mein wirkliches Büro wieder betreten. Auf Anhieb versuchte ich erst einmal, etwas Schokolade zu verteilen, aber Bitterschokolade trifft wohl auch nicht den Geschmack der Japaner. Am besten gefiel mir noch die Antwort nach dem probieren: K: ?Was ist das?? – R: ?Bitterschokolade.? – K: ?Ach so, die ist ja bitter.? ? R: ?Kein Wunder, das impliziert ja schon der Name?.? Der einzige, dem es uneingeschränkt geschmeckt hat, konnte natürlich kein anderer als Shimizu sein, der isst einfach alles.
Die Gegenleistung konnte sich aber sehen lassen. Da ich noch etwas schaffen wollte, war ich zu späterer Stunde noch da. Zu dieser Zeit wurde ich von meinem zweiten Betreuer auf Japanisch angesprochen. Ich habe wegen der Überraschung zwar kaum etwas verstanden, nickte aber erst einmal aus Prinzip. Das aus Prinzip nicken ist nebenbei eine schlechte Angewohnheit, irgendwann verkaufe ich mal etwas wichtiges auf dem Weg oder dergleichen. Wie sich herausstellte, wurde Sushi in der nahen Sushibar in das Department bestellt. Zu allem Überfluss musste ich noch nicht einmal zahlen, obwohl ich es gerne gemacht hätte. Das Sushi brauchte zwar eine Stunde, bis es da war, aber im Kreis der Mitstudenten und des Betreuers macht das Essen doch gleich doppelt so viel Spaß. Gleichzeitig existiert die Möglichkeit, sich ein wenig auszutauschen und noch weiter in die Gemeinschaft des Departments aufgenommen zu werden. Es ist einfach eine Schande, dass derartige Abende in Göttingen unmöglich sind. Auf jeden Fall muss ich ab jetzt freitags immer länger in der Uni bleiben. Letzte Woche kostenlose Pizza und diesmal Sushi, was will das Herz (eigentlich der Magen) mehr?