Japan ist ein Land, in dem man sein Zeitgefühl sehr einfach verlieren kann. Schon alleine, dass am Sonntag die Geschäfte offen haben, nimmt dem Europäer einen Fixpunkt. Auch ansonsten gibt es kaum Anzeichen für bestimmte Tage. Freitags wird komplett durchgearbeitet, die Straßen sind am Wochenende kaum voller als in der Woche und meine Nachbarn sind weder in der Woche noch am Wochenende jemals anzutreffen. Wie bitte soll man so noch die Übersicht behalten? Da ich meinen Fuß am Montag beim Gewaltmarsch zum Bus unglücklich verdreht hatte und er immer noch ein wenig weh tat, entschied ich den Tag heute gemütlich angehen zu lassen, lernen schadet ja auch nie. Auch wenn meine Freunde wie Orsolya es wunderbar beherrschen, ganz in der Umgebung von meinem Wohnheim zu bleiben, konnte und wollte ich das dann aber auch nicht den ganzen Tag. Die Entscheidung fiel auf eine Ausfahrt mit dem Rad. Passenderweise traf ich auf eine Deutsche, die ebenso wie ich vom Glück verfolgt wird. Nach nur zwei Wochen in Japan ist ihr PC kaputt gegangen und japanische PCs sind kein anständiger Ersatz. Ganz ohne elektronisches Gerät ist es aber in den Zimmern der Wohnheime doch etwas langweilig. Bücher sind zwar angenehme Möglichkeiten, aber bei nicht 100-prozentigen Japanisch-Kenntnissen leider keine Alternative. Zugegeben, ich würde sie liebend gerne entziffern können, für ein Buch benötigt man aber gut 1000 bis 1500 Kanjis. Das ist eine schier unmögliche Anzahl, die Japaner normalerweise erst in etwa der siebten Klasse halbwegs lesen können. Maximal absolute Kinderbücher sind überhaupt ohne entsprechende Kenntnisse zu entziffern. Bücher in anderen Sprachen bekommt man dagegen wirklich selten. Dementsprechend fallen alle Beschäftigungsmöglichkeiten weg und einen CD-Player hat sie auch nicht. Aufgrund von akutem Geldmangel möchte sie aber maximal einen gebrauchten CD-Player kaufen. Kein Problem für mich, Gebrauchtläden kenne ich in dieser Stadt genug und so zogen wir mit dem Rad gemeinsam los, einen CD-Player günstig zu bekommen. Das war gar kein so leichtes Unterfangen. In Zeiten von MP3-Playern und PCs gibt es kaum noch CD-Player und so gestaltete sich die Suche komplizierter als gedacht, wollte man nicht gleich eine vollständige Stereoanlage kaufen.
Aber zurück zur Einleitung. Unser Weg zu den Gebrauchtläden kreuzte die örtliche Frauenuniversität. Schon der Fakt einer reinen Frauenuniversität ist ziemlich kurios. Wie unterscheidet sich diese von normalen Universitäten und warum sollte man sein Studium dort absolvieren? Bei Schulen mag ich ja noch bis zu einem gewissen Grad den Sinn der Einrichtung erahnen können, bei einer Universität sieht das Ganze aber schon anders aus. Zu meiner Überraschung war die Universität auch noch sehr gut besucht. Am Anfang dachte ich noch, ich habe mich im Tag vertan, aber meine Uhr zeigte tatsächlich Sonntag an und die Uni war komplett mit Studenten wie an einem Wochentag überfüllt. Bei der Tohoku Universität würde ich das ja noch verstehen, schließlich liegen wir noch fast in der Stadt. Diese Universität liegt aber auswärts auf einem Berg. Wer würde da freiwillig am Wochenende erscheinen und dazu noch in diesen Massen? Des Rätsels Lösung liegt einfacher als gedacht, aber erst meine Nachbarn konnten mich der Lösung näher bringen. Die einfache Lösung lautet, es ist Herbst! O.k., was ist das für eine Antwort, wird man jetzt fragen. Aber wenn man die Fakten auf den Tisch legt, macht das sogar Sinn und gilt laut meinen Nachbarn auch für die Tohoku. Im Winter ist es zu kalt und im Sommer zu warm für körperliche Anstrengungen. Nun hat jede Universität aber die verschiedensten Sportclubs unter sich, die täglich mehrere Stunden trainieren, um an Wettbewerben teilzunehmen. Diese Wettbewerbe sind nicht so wie in Deutschland irgendwelche Jugendligen, sondern zwei im Frühling und Herbst stattfindende Großturniere, an denen Studenten aus allen Präfekturen Japans teilnehmen. Gleichzeitig bedeutet der Verzicht auf ein Ligensystem aber auch, dass die japanischen Studenten im schlimmsten Fall zwei Spiele pro Jahr unter Wettbewerbsbedingungen absolvieren und die restliche Zeit nur trainieren. Im Idealfall hat die Mannschaft noch ein paar Testspiele, das war es dann aber auch schon. Ein normaler Student, der wie in Japan üblich nur seinen Bachelor macht, hat also eventuell nur 8 Wettbewerbsspiele in vier Jahren Studium, dafür trainiert er aber täglich mehrere Stunden mit der Mannschaft. Gleichzeitig sind die Einsatzchancen eines Spielers im ersten und vierten Jahr äußerst gering. Im ersten Jahr fungiert man nach dem japanischen Rangsystem meist nur als Lakai und erst ab dem zweiten Jahr hat man Chancen auf die Bank eines Clubs. Und als Student im vierten Jahr gibt es wohl eine große Austrittsbewegung, weil man sich auf den Abschluss konzentrieren muss. Natürlich ist es nicht in jedem Sport so extrem, aber meine Mitbewohner haben mir von mehreren Fällen berichtet, wo es exakt so ablief. Die effektive Anzahl von Turnierspielen reduziert sich im Normalfall also auf zwei bis vier Spiele. Um für diese raren Events also fit zu sein, wird das Training der Sportler für diese Zeit des Jahres noch einmal intensiviert. Das ist auch der Grund, warum sich die Studenten am Wochenende an der Uni befanden. Berichten zufolge wird am Wochenende im Herbst bei guten Teams dann schon einmal 10 Stunden am Tag trainiert. Vergleicht man den Wert dann mit dem normalen Training von Profis in Deutschland, erscheinen die Japaner schon leicht verrückt, auch wenn ihre Motivation verständlich ist. In Ermangelung eines derartigen Clubsystems in Deutschland wirkte das Bild aber wirklich imposant, wie überall trainiert wird und Sonntags die Uni gestürmt wird.
Insgesamt wurde es auf jeden Fall ein interessanter Trip, auch wenn der Einkauf etwas anstrengend war. Männer schauen sich meist eine Sache an und sind fertig. Frauen schaffen es dagegen gerne mal, solche Shoppingtouren in die Länge zu ziehen. Genau so sah es heute auch aus und so brauchten wir für die für maximal eine Stunde eingeplante Strecke am Ende 3, aber zum Glück hatte ich ja eh Zeit und irgendwie hat es ja auch Spaß gemacht.